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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

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Der Bund für vereinfachte rechtschreibung nimmt stellung

Zu Urs Remund und Wolf Schneider

NZZ Folio, 4. 7. 2011, Urs Remund (Nahe liegend oder naheliegend? Das Folio und die Rechtschreibung.) und Wolf Schneider (Manbrif in Sachen Murks.).

Wolf Schneider hat die rechtschreibreform, die ihn im alter von 71 jahren ereilte, auch mit 86 noch nicht verdaut. Aber sein artikel im NZZ Folio vom 4. 7. 2011 enthält nun wirklich nichts anderes als das, was er schon mehrmals im NZZ Folio (1995, 1997, 1999) ausgebreitet hat. Je länger die neuregelung zurück liegt, desto deplatzierter ist sein gejammer. Immerhin jammert er in seinem «Manbrif» auf vorrat für den fall, dass sich weitere neuerungen «Ban» (Konrad Duden, 1876) brechen sollten.

Dass sich «das Haus NZZ weigert, den Unsinn der Rechtschreibreform mitzumachen», wie sich korrektor Remund plakativ ausdrückt, ist etwas übertrieben. Wenn man in der praxis herausfinden will, ob ein schweizerischer text «alt» oder «neu» geschrieben ist, fallen einem die worttrennung am zeilenende und vielleicht noch die dreikonsonantenregel ins auge. Der unvoreingenommene betrachter wird beim aktuellen «NZZ Folio» angesichts von «Fens-ter», «Dis-tanz», «schi-cken», «dru-cken», «Prob-lem», «Resig-nation» sowie «Stillleben» (Giordano: «Nur über meine Schriftstellerleiche!») und «Fotograf» auf «neu» tippen. Wer zuerst «Potential» (NZZ «Potenzial»), «auf rumänisch» (NZZ «auf Rumänisch»), «39jährig» (NZZ «39-jährig»), «zum besten geben» (NZZ «zum Besten geben») oder «der letzte» (NZZ «der Letzte») sieht und das als alte rechtschreibung erkennt (was nicht mehr selbstverständlich ist), wird zu einem anderen schluss kommen. Auch trennt das «Folio» «Chir-urg» und «Heliko-pter», aber leider gibt es ganze ausgaben, die uns das nicht offenbaren. Und was soll man von «etwas eigenes» (s. 28), «Männer domäne» (s. 13) und «Referenz an den Kultsong» (s. 56) halten? Ist das die nächste reform?

Hausortografien gab es schon immer, auch die NZZ hatte schon immer ihre eigenheiten («placieren», «Plastic»); die neuregelung hat die zahl der varianten vorübergehend ein bisschen erhöht. Die leser merken es nicht (siehe unten), und die typografen, die es noch gibt, mussten grössere umwälzungen erdulden als ein paar ortografische änderungen und freiheiten. Die korrektoren, die es noch gibt, können die eine publikation so und die andere anders korrigieren; dafür erhalten sie geld. Für das (unausgesprochene, aber gültige) motto «alte schreibung für alte leser» muss man verständnis haben; seinerzeit hat ja die alte tante NZZ auch zum spätestmöglichen zeitpunkt die fraktur abgeschafft. Natürlich sehen es nicht alle so locker. Manfred Papst, ressortleiter kultur der «NZZ am Sonntag», beklagt «einen wild wuchernden Pluralismus» als folge der reform und findet es schlimm, dass «etliche Verlagshäuser ihre eigene Hausorthographie pflegen». Es ist noch schlimmer: Wie oben ersichtlich, wuchern in seinem haus gleich mehrere unterhaus­ortografien.

Die NZZ-sprache ist gewiss gehobener als die anderer presseerzeugnisse, aber ist sie so unverständlich, dass sie auf ortografische krücken angewiesen ist? Kann es sein, dass die NZZ-leser den unterschied zwischen brot und eheleuten oder zwischen einem restaurant und einem gedanken nicht kennen und eine verdeutlichung durch das attribut benötigen (frisch gebacken und frischgebacken bzw. nahe liegend und naheliegend)? Andererseits können sie anscheinend ohne hilfe einen «blinden Passagier» (frz. passager clandestin) von einem «blinden Passagier» (passager aveugle) unterscheiden. Es geht auch ohne die früher übliche differenzierung des hilfsverbs «seyn» und des pronomens «sein»; dabei wurde die damals sicher nur abgeschafft, um den dummen das schreiben zu erleichtern. Es gibt aber ziemlich viele dumme: «Die Rechtschreibkenntnisse der Bevölkerung haben sich in den letzten 20 Jahren nicht verschlechtert, aber auch nicht verbessert. Wörter wie ‹Lebensstandard› oder ‹Rhythmus› konnte damals wie heute nur jeder Zweite bzw. knapp jeder Dritte korrekt schreiben.» (Bevölkerungsumfrage der Gesellschaft für deutsche Sprache, 2008.) Und nun soll die neuregelung, wie sich Wolf Schneider ausdrückt, «für alle, die schreiben, eine Belästigung» sein?

Wolf Schneider sollte vielleicht einmal nachlesen, was Marcel Reich-Ranicki 1996 im «Spiegel» über die schriftsteller schrieb: «Als man sich 1954 schon einmal, wieder einmal Gedanken über die deutsche Rechtschreibung machte, war Thomas Mann empört. […] Thomas Mann hat die Rechtschreibung, wie aus Tagebüchern ersichtlich, keineswegs beherrscht. Er war damals 79 Jahre alt. In diesem Alter sieht man den Boden der Suppenschüssel und hat keine Lust, sich die Regeln einer neuen Rechtschreibung anzueignen. Ob vielleicht auch damit die späte Entrüstung unserer Schriftsteller zusammenhängt? Viele, die diese Erklärung [frankfurter erklärung gegen die rechtschreibreform] unterschrieben haben, sind ja über 60, wenn nicht über 70 Jahre alt.»

Rolf Landolt, vorsitzer des Bundes für vereinfachte rechtschreibung (Zürich)